[Im Rahmen eines gemeinsamen Projekts mit dem Titel [dd.mm.yyyy] von Sebástian Silva Kühne (dr.salat) und mir verbanden wir Sound mit Literatur, das alles kann hier angehört werden. Danke an wiewärsmalmit, aka Ana und Felix, die den wunderbaren Space zur Wand ins Leben riefen, wo wir die Performance halten durften. Der Eingangstext der Performance ist hier auch in schriftlicher Form lesbar, einige persönliche Überlegungen zum Thema Entfremdung folgen anschliessend.]
Entfremdung
Ich bin entfremdet von:
Joghurt im Plastikbecher
Kerosingestank startender Flugzeuge
Retinadisplay auf smart gadgets
Bearbeiteten Bildern von makellosem Hautgewebe
Lederhandtasche aus totem Krokodil
Couchtisch aus Sperrholz
Perserteppich im Wohnzimmer
Glasbläserhandwerk-Doku
Industrieller Brotbäckerei
Elektrizität einer Glühbirne
Rosa Paraffinölkerze
Triptychon aus dem schwedischen Möbelhaus
Faire Kaffeebohnen aus dem third wave coffee shop
Speed im Plastikbeutel
Den alternden Eltern im Garten
Virtuellem Geld auf der Kreditkarte
Hühnereier im Karton
Hämoglobin im Blutkreislauf
Faszienstrukturen
Der eigenen Nacktheit
Krauser Körperbehaarung
Mäandrierenden Flüssen
Stinkenden Müllsäcken
CO2-Warnungen in linkspolitischen Zeitungen
Burgerpatty in der Fastfoodkette
Der dementen Grossmutter
Aufgelösten Vitamintabletten
Desinfektionsspray
Gehirnwäsche
Geldwäsche
Greenwashing
Grossflächigen Gemüseäckern
Mais-Monoplantagen für corn syrup
Aussagen gegen das Frauenstimmrecht
Dem grinsenden Gentleman
Er hebt mir die Türe auf.
Und fragt: «wohin geht’s denn?»
Entfremdung in a nutshell
Dem Schlagwort "Entfremdung" wohnt ein breites Spektrum an Bedeutung inne, vielzitiert in der Kultur- und Gesellschaftskritik, aber auch allgemeiner den Geistes- und Sozialwissenschaften inhärent.
Für mich persönlich bedeutet Entfremdung vor allem das Auseinanderdriften zwischen Subjekt und Sachverhalt, zwischen mir und der Welt, eine omnipräsente Empfindung unserer Epoche. Es ist ein schleichender Prozess, quasi "am passieren", analog zur Ausdrucksform des present/past continuous im Englischen oder dem Schweizerdeutschen Pendant "ich gang goge ..." . Wie der Begriff schon zu verstehen gibt, wird mir etwas Vertrautes zunehmend fremd, ein dissoziativer Zustand tritt ein, je nach dem auch das Gefühl von Abgeschirmtheit oder Vereinzelung. Wenn ich mich entfremdet fühle von der Umgebung, der Erde, der Lebenswelt, dann geschieht dies bei mir vornehmlich in Bezug auf unsere Umweltproblematik - der Klimakrise - die daraus resultierenden Folgen und das ambivalente Wesen der Menschen. Auch die sozialen Missstände in der globalisierten Gesellschaft lösen bei mir Entfremdung aus, dazu der Rattenschwanz an Problemen und Konsequenzen, die damit verbunden sind. Da sind philsophische Fragen unseres Daseins, die sich in die fast schon rhetorische Frage gipfelt (auf die es durch deren unglaubliche Komplexität zig-tausend mögliche Antworten und doch nichts Handfestes gibt):
"Warum schaffen wir [die Menschheit als solches] es nicht, etwas nachhaltig zu verändern?"
Und zwar asap, alias 5 vor 12, alias eine halbe Sekunde vor den ersten Kaskadenschlägen.
Ich empfinde das tägliche Alltagsleben zuweilen als Pseudoharmonie, mein Glück und meine Zufriedenheit als irgendwie heuchlerisch oder gar fake, weil ich mir bewusst bin, das mein schönes tolles Leben auf den porösen Schulterknochen eines grossen Teils der Weltbevölkerung steht.
Wir reden in der Konsumgesellschaft so häufig über Bagatellen, Äusserlichkeiten, schmücken uns mit bedeutungsschweren Worten, die in der Tat lediglich Hülsen und leere Versprechungen darstellen. Es kommt mir manchmal seltsam vor, über stylische Kleidungsstücke (auch aus dem second hand shop!) und fancy Rezepte zu schwatzen, während wir essentielle Diskurse häufig totschweigen, unter den Teppich kehren - oder aus diversen Gegebenheiten keinen Zugang dazu finden.
Wir ignorieren oft die Ungleichheit(en), die Imbalance auf diversen Ebenen, schauen vielleicht Dokumentationen über genau diese Dinge - aber aus der Distanz vom Bildschirm aus, verschlüsselt in einen abstrakten Code dank den erstaunlichen Filter in unseren Gehirnen. Dies in a nutshell, also möglichst kurz und knapp formuliert, ein Abriss der Zerissenheit, den so viele Menschen eigentlich spüren, aber ausblenden . Dieses "Wir", von dem ich oft schreibe, steht stellvertretend für die westliche Gesellschaft, enger betrachtet konstituiert es sich aus meinem Umfeld. "Meinen Kreisen"; wie es umgangssprachlich gesagt wird, "einem bestimmten Milieu", wie es sozialwissenschaftlich womöglich besser umrissen wird.
Wie auch immer - der Text "Entfremdung" beinhaltet Stichworte oder Ausdrücke, die bei mir den Zustand der Entfremdung auslösen. Er wurde - wie oben erwähnt - als Eingangssequenz von [dd.mm.yyyy] genutzt, um die Monotonie und Absurdität des alltäglichen Lebens zu beschreiben. Die gelisteten Verszeilen sind verbunden durch gedankliche Assoziationsketten über genannte gesellschaftliche und klimatische Missstände. Die Anordnung der einzelnen Zeilen scheint auf den ersten Blick random, was auch die Zufälligkeit dieser Phänomene und Kombinierbarkeit der Problematiken darstellen könnte. Beim genaueren Hinschauen sind die Assoziationen aber wellenförmig gelistet. Soll heissen, ausgehend von der äusseren Perspektive wird zeitweise in eine angedeutete Introspektion der Protagonistin geschwenkt, die dann wieder ins Allgemeinere herausgeht und in einen Dialog mit einem stereotypen, männlich gelesenem Gegenüber mündet. Allem voran die "mäandrierenden Flüsse", welche im Laufe der gesamten Performance immer wieder als Schlagwort und Stilmittel hervorgeholt wurden. Diese symbolisieren nicht nur die besagte wellenförmig gehaltene Eingangssequenz, sondern stehen für den natürlichen Lauf der Dinge, das stetige Fliessen des Wassers, die gleichzeitige Unaufhaltsamkeit, die Rohheit und gleichzeitige Schönheit von Naturspektakeln. Mäandrierende Flüsse wurden aber aus zivilisatorische Gründen oft kanalisiert, deren natürliches Flussbecken ausgehoben. Deshalb findet sich in diesem Schlagwort nicht nur die Rohheit/Schönheit der Natur wieder, sondern auch die gegenteilige Zerstörung/Technik. Ergo: Natur vs. Mensch, Schönheit vs. Technik, der Lauf der Dinge lassen vs. ein bewusstes Eingreifen.
Für mich persönlich stellen die mäandrierenden Flüsse darüber hinaus eine Metapher der Entfremdung dar. Eine nicht klare Navigation durch ein Feld, ein Fluss, der immer wieder die Richtung ändert - schliesslich in einen grösseren Strom fliesst.
Thumbnail-Fotografie: Lucie Badenhorst
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