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  • AutorenbildRahel Baer

post-lockdown moment

Aktualisiert: 18. Jan. 2023

[Eine Tagesdokumentation von Anfang Mai über erste Momente nach dem Lockdown.]


Ein Sommerabend in Zürich

Ich laufe der Europaallee entlang, der Platz ist mit schwarzem Teer ausgegossen, es tummeln sich scheu ein paar Menschen um die Sitzgelegenheiten des einzigen Baumes hier weit und breit. Links und rechts säumen wiedergeöffnete Bars die Fussgänger:innenstrasse, viele Stühle stehen immer noch leer. Da ist ein edel anmutendes Asia-Restaurant mit hellen Holzbänken und pastellfarbigen Lampions hinter den Gleisen der SBB. Da trifft Kulturelle Einverleibung auf Schweizer Pünktlichkeit; wir nennen das eine multikulturelle Begegnungszone im urbanen Raum. Natürlich ist der Untergrund multifunktional, zumindest auf dem Papier de:r Architekt:in, unterhalb des schwarzen Feldes befindet sich eine Tiefgarage mit teuren Autos und etlichen leerstehenden Parkplätzen.

Es dämmert bereits und ich blicke empor zu den anthrazitfarbigen Blöcken mit poliertem Stahlgehäuse, darin befinden sich grosse helle Büros mit minimalistischer Designereinrichtung. Imitiertes Tageslicht leuchtet gleichmässig von den Decken auf die weissen Pulte, auf deren sich Computerbildschirme befinden. Der Bürostuhl sieht von weitem jedenfalls sehr bequem aus, wenn auch die sechs Leute, die auf ihnen sitzen, weder besonders gute Haltung noch besonders gute Laune zu scheinen haben. Vielleicht sind sie auch zutiefst konzentriert, schenken dem neuen Start-Up ihr Herzblut und ihre sensiblen Daten. Wie habe ich das an der Uni auf der Powerpoint-Folie der Dozentin für Frühe Neuzeit mit auf den Weg bekommen? Immer noch ihre warme Stimme im Kopf wahrnehmend, wie sie in deutschen Singsang konstatierte: «Hat sich doch im Laufe der Geschichte das Privatleben erst vom Arbeitsleben abgegrenzt, scheint es sich im Zuge der Postmoderne bereits wieder aufzulösen.»

Ich laufe weiter.

«Die haben es geschafft», ertappe ich mich denken.

«Haben die es geschafft?» frage ich mich im nächsten Atemzug.

Arbeiten flexibel, aber mindestens sieben bis acht Stunden pro Tag. Jetzt ist neun Uhr und viele sitzen stoisch vor ihren modernen konkaven Bildschirmen. Verdienen sich eben ihr Zaster, Leute mit adretter Kleidung, die ihre unterbezahlte Putzkraft die Kragen bügeln lassen.

Alles andere als «eine ruhige Kugel schieben». Ein Schweizer Sprichwort der Babyboomer für das heutige «Leben chillen». Die Phrase rollt aber nicht von der Zunge, viel mehr wird mit Argusaugen, spitzfindigem schmallippigem Lächeln auf ein Gegenüber gefeixt. Eine Mischung aus Missgunst und gleichzeitig besserwisserischer Überlegenheit. Ein Sprichwort, das meine Tante oft äussert, wenn sie abends noch frustriert vor dem flimmernden Bildschirm sitzt und den müden Kopf mit der Hand abstützt. Ein Sprichwort, das lapidar über die Lippen kommt, wenn ich sie in ihrer dörflichen Umgebung besuche und den Anschein einer unbekümmerten Studierenden erwecke.

Ich bin auf dem Weg zur Bäckeranlage, passiere halbversunken in meine Gedankenwelt die Langstrasse bis zum Park. Es ist viel los, lautlabernde Leute stehen auf dem Trottoire mit Bierdosen, dazwischen Polizisten mit schutzsicheren Westen und Biker-Sonnenbrille, die mit verschränkten Armen regungslos dastehen. Dann ist da noch eine Sex-Arbeiterin, die ihr Kind mit rapiden spanischen Wortfetzen zurechtweist. Auf dem Skatepark übt ein Mann zaghaft Tricks auf seinem Board, daneben ein Junge mit Scooter, der ihm sehnsuchtsvoll zuschaut.

Ich erreiche den Eingang der Grünanlage und suche meine Freund:innen, die es sich weit hinten im Gras schon bequem gemacht haben. Elena sitzt im Schneidersitz auf ihrem grauen Frotteetuch und winkt mir von weitem zu. Ihre kinnlangen Haare glänzen im Licht und ihre zierliche Gestalt ist von einem schwarzen Baumwollkleid umspielt. Danilo sitzt ihr gegenüber, er fährt sich durch seine kurzen schwarzen Locken, schreit laut «Rachie!» als er mich kommen sieht. Als ich dann eine Armlänge weit von ihnen entfernt stehen bleibe, zögern wir alle kurz, ehe wir in Gelächter ausbrechen und uns umarmen, sodass wir alle drei zu Boden fallen und uns knuddeln.

«Ach, es tut so gut, wieder im engen Körperkontakt zu sein!» sagt Danilo ausgelassen.

Ich nicke und schüttle beinahe unmerklich den Kopf.

«Wie lange wir uns nicht gesehen haben... Da hatten wir beide eine stressige Zeit vor dem Lockdown. Und dann – zwei Monate sind im Nu vergangen! Wie geht es dir, Danilo?» frage ich.

«Doch, es läuft. Ich bekomme zum Glück bald einen neuen Mitbewohner. Er ist zwanzig und beginnt mit dem künstlerischen Vorkurs. Dann bin ich endlich Lukas los...» Er erzählt mir von seinem koksenden Mitbewohner, der sich locker ein paar Lines zieht, um danach mit aggressiver Mine fernzusehen. Er redet von dessen Mutter, die ihrem Jungen täglich Essen in Tupperware vorbeibringt und sich nach fünf Minuten wieder lautlos aus dem Staub macht. Schliesslich von den Streitereien, die in cholerische Anfälle münden, dann und wann eine Ohrfeige klatscht, eine Beleidigung an seine Freundin im Nebenzimmer zitternd echot.

Ich schaue ihn an, sprachlos von seiner momentanen Wohnsituation.

Da klinkt sich Elena ein: «Mein erster Monat in der neuen WG war auch einfach der Horror... Ich wohne gerade mit zwei Frauen zusammen, die eine ist echt superlieb und wir verstehen uns ganz gut. Aber die andere, ich sag’s euch, das ist echt nicht zum dabei sein. Hält die doch tatsächlich einen Luftbefeuchter für ihr Klavier, welches übrigens auch im Wohnzimmer steht, täglich vierundzwanzigstunden am Laufen. Fünfzig Prozent Luftfeuchtigkeit ist da eingestellt – und, man muss sich das einmal vorstellen, die lüftet nie! Dann habe ich ihr die schwarzen Schimmelpilzspuren am Fensterkitt gezeigt und ihr sachlich erläutert, dass sie diesen Luftbefeuchter unbedingt abstellen muss, sonst wird das schlimmer. Sie wurde dann so wütend und hat den Esstisch an die Zimmerwand geknallt!»

Sie erzählt von der Trennung ihres Freundes mitten in der heissen Phase des Lockdowns, ihren Auszug aus der gemeinsamen langjährigen Wohnung und ihren Umzug nach Zürich. Und sie teilt uns mit, wie es war, gefühlt heimatlos zu sein in einer Zeit, wo sich das ganze Leben auf das Haus, auf die Heimat kondensierte.

Sie hat Selbstquarantäne zwischen Koffer und Umzugskisten gemacht, bei Freund:innen auf der Couch mit schlechtem Gewissen als potentielle Virenschleuder gepennt.

Wir hören ihr aufmerksam zu. Diese Post-Corona-Gespräche werden sich im Laufe der Zeit häufen, die Frage «Und, wie war deine Quarantäne so?» ist gerade gewissermassen das neue «Wie geht’s dir?».

Und dann inmitten dessen die schwierigen Wohnverhältnisse, die teilweise in ein Fiasko sondergleichen münden, von denen viele Mitte zwanzig ein Liedchen davon singen können. Vielleicht irgendwann schulterzuckend zurückblicken, aber nicht jetzt –

Denn wir sind mittendrin.


[...]




Thumbnail-Fotografie: Sarah Preiswerk

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